Ahna und Ehne

Schreibimpuls aus dem Biografischen Schreiben: „Schreibe einen Text über ‚Die ersten Glücksgefühle deiner Kindheit‘“

Ahna und Ehne

Die ersten Glücksgefühle meiner Kindheit hatte ich bei Ahna und Ehne. Sie waren Bauern und lebten in einem grossen Bauernhaus. Ahna hatte ihren Blumengarten vor dem Haus, direkt an einem kleinen Fluss, über den im Herbst die vollen Äste der Pflaumenbäume bis ins Wasser hingen. Ehne stieg in die Bäume und schüttelte sie. Darunter hatte er ein weisses Leintuch ausgespannt, in das die blauen und gelben Pflaumen prasselten. Als Ehne alt wurde, wollte ihn Ahna davon abhalten, in die Bäume zu steigen, doch er hielt die Äste seiner Bäume und sich selber stets für stark genug.

Er hat sich auch nie ein Bein gebrochen. In seinen schwarzen Gummistiefeln stiefelte er über den Hof, über die Äcker, durch die Jauche und über den Perserteppich in der Stube.

Nur am Sonntagmorgen trug er schwarze Lederschuhe, ein weisses Hemd, und einen schwarzen Anzug. Gebadet und rasiert schritt er in die Stube, setzte sich auf seinen Polstersessel und schnitt sich vor der Messe die Fingernägel mit dem roten Schweizer Taschenmesser. Die abgeschnittenen Fingernägel liess er in die Schnäbel der dunkelblauen Vögel auf dem Teppich fallen. Dann setzte er seinen schwarzen Hut auf und ging mit mir zur Kirche.

Zum Mittagessen kamen wir zurück. Ahna hatte gekocht, ich und Ehne assen am liebsten Fleisch. Während der Woche nahmen wir um zehn Uhr morgens schon den ersten warmen Fleischgang zu uns, der uns Kraft gab. Als Ahna alt wurde und meine Mutter meinen Grosseltern manchmal das Mittagessen brachte, sagte Ehne nichts, bis meine Mutter verrauscht war. Erst beim Essen sagte er: „Es schmeckt nicht, wie wenn es Ahna gekocht hat.“

Es stimmte, Ahna nahm sich Zeit zum Kochen. Sie hatte grosse Kräuterstöcke in ihrem Garten, die sie für den Salat und die Suppen schnitt. Doch wie gesagt, Ehne und ich assen eigentlich nur Fleisch. Und für ihre Fleischsossen verwendete Ahna ihre drei Gewürze Muskatnuss, Paprika, Pfeffer.

Nach dem Fleisch gab es Nachtisch, immer mit frischem Rahm aus der Milchkammer, den Ahna mit einem Schöpflöffel am frühen Morgen langsam von der Milchkanne gestrichen und beim Wandlungsläuten mit dem grossen Schneebesen geschlagen hatte. Dann rauchte Ehne seine Zigarre, er zog und blies so lange, bis die Luft in der Küche weiss und dicht wurde wie der Schlagrahm in der Schüssel. Es war ein Genuss, bei Ahna und Ehne hatte ich Ruhe, und meine Stunden widmete ich vor allem dem Essen.

Ahna selbst ass ausser Honig nie Süsses. Doch ich wusste schon am Mittag, dass sie um vier Uhr sagen würde: „Jetzt holst du noch etwas aus dem Käsekasten.“

Der Käsekasten war ein Holzkasten im Keller, der oben runde Löcher hatte, die mit einem Eisennetz überzogen waren, damit die Speisen Luft bekamen und die Mäuse nicht hineinkamen. Auf den grüngrauen Tablaren gab es Milchschokolade, Mohrenköpfe und Kekse in goldenen Schachteln. Ich lief die steinerne Treppe hinunter, vorbei an der Tür, die zu den Ställen und den Mäusen führte. Im Keller, dessen Boden nur aus kühlem Stein und Erde war, öffnete ich behutsam den eisernen Haken des Käsekastens und schnüffelte hinein, und immer fand meine Nase, was sie suchte.

Neben dem Essen verbrachte ich meine Zeit mit Erzählen, ich erzählte Ahna und Ehne von der Schule, von meiner neuen Zeichnungsskizze, die ein grosses Auge darstellte, in dem sich Ochsen spiegelten. Es war ganz ruhig in der Küche, nur manchmal fiel ein Krümel eines Kekses auf den Boden, wenn ich beim Erzählen keine Zeit zum Schlucken hatte.

Ahna und Ehne unterbrachen mich nicht. Sie waren beide ganz still. Wenn ich in der Küche erzählte, sass Ahna auf ihrem Holzstuhl und Ehne auf der Holzbank. Beide hatten die Hände gefaltet und hörten zu. Wenn ich in der Stube erzählte, sass Ahna auf dem Stubenstuhl und Ehne auf dem senfgelben Sofa. Wenn wir in der Stube waren, strickte oder häkelte Ahna, und Ehne hielt den Rosenkranz zwischen den knorrigen Fingern.

Es waren leise Stunden, in denen es ausser mir nichts als Stille gab. Nur hin und wieder schlug die Kirchuhr, und am Abend, wenn sich die Berge mit einem roten Glanz überzogen, muhte eine Kuh. Auch wenn ich es als Kind nicht hätte sagen können: Diese Ruhe war für mich so nahrhaft wie die dampfenden Fleischstücke im braunen Teller.

Ich danke Euch, Ahna und Ehne.