Die Sinne spitzen

80 % Sehen: Die Sinne spitzen

«Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los …»

Rainer M. Rilke

Liebe  Federfreunde

Das Wichtigste beim Schreiben ist für mich nicht die Feder und nicht die Tinte, es sind nicht die Wörter, nicht die Sätze, nicht die Tipsfehler und Kommas und Punkte. Nein, das Wichtigste sind zuallererst die Augen. Schreiben bedeutet: 80 % sehen und 20 % schreiben. Wenn ich vom «Sehen» spreche, meine ich allerdings nicht nur die Pupillen, ich sehe genauso viel mit der Nase, der Zunge, den Ohren, dem Herzen und den Poren. Ein Schreibfux spitzt seine Sinne so scharf wie seine Feder. Kurz: Ich spreche von der «Schule des Sehens.»

16_Federfux_Mond_Var5Ich mache es so: Ich streune durch die Wiesen und Wälder und setze mich zum Schreiben mit allen Sinnen an ein lauschiges Plätzchen. Ich öffne die Augen, spitze die Ohren, schnuppere in die Luft und fühle die Vibrationen in den Pfoten. Konzentriert nehme ich die alltäglichen Dinge aus meiner Umgebung wahr: ein Humpelhuhn im Freilaufgehege des Bauern Muggli, einen Schmetterling am Alten Weiher, einen Teller mit einer knusperzarten Entenbrust,  ein zorniges Gespräch zwischen zwei Passanten. Dann beschreibe ich die Geräusche, Bilder und Gerüche, die mir die Natur zuträgt.

Mein Freund Rainer Rilke schreibt in «Briefe an einen jungen Dichter», wir sollten uns der Natur nähern und versuchen, wie der erste Mensch auf Erden zu sagen, was wir sehen und erleben. «Denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen, gleichgültigen Ort.» Also übe ich mich darin, das Kleine zu ehren.

Erster Vorteil: Beim Schreiben in kleinen Zeiteinheiten und konkreten Momenten behalte ich leichter den Überblick als bei einer mehrere hundert Seiten überspannenden Erzählstruktur.

Zweiter Vorteil: Kleine Sätze und kurze Fragmente, sogar ein einzelnes Wort, können ein guter Anfang für eine Geschichte sein. Notiere ich mir über längere Zeit solche Trouvaillen, spinnt sich ganz von selbst ein langer roter Faden daraus.

Und drittens bewahrt mich die Technik des genauen Beobachtens vor Sentimentalitäten, Vorurteilen und ungewollten Übertreibungen. Denn das erste, was ich von einer Sache sehe, ist meist ein Klischee (der Banker im Nadelstreifenanzug, die roten Rosen). Deshalb schaue  ich lieber ein zweites Mal hin und suche nach den Besonderheiten, Unregelmässigkeiten und wesentlichen Charakteristiken. Und ich schreibe in mein Flitznotizbuch:

„Ein Schmetterling stolpert mit löchrigen Flügeln einsam über den Blaukohlacker – der Sommer ist vorbei.“ Gut, nicht?

P.S.: Mehr Tipps und Tricks gibt’s in meiner «Fliegenden Schreibwerkstatt». Die ist vollgepackt mit meinen besten Erzählkniffen. Schaut mal rein, wenn ihr mögt.