Mohnblumentraum

Schreibimpuls aus dem Kreativen Schreiben: „Schreibe einen Text, in dem eine Frau und eine Mohnblume vorkommen.“

Mohnblumentraum

Es war vor vielen Jahren auf meiner Wanderreise. Eines Abends kam ich in ein Dorf und sah ein altes Schloss auf einer Anhöhe über die roten Dächer ragen. Mit meinem Bündel auf dem Rücken nahm ich die staubige Abzweigung und erklomm den Hügel, der von der Sommersonne braungesengt war. Jede Blume war in der Hitze verdorrt, das Gras knisterte unter meinen Füssen, die trockenen Wurzeln und Zweige knackten und zerbrachen bei jedem Tritt. Nur die Pinien ragten dunkelgrün in den Himmel und wiesen mir den Weg.

Als die Sonne unterging, trat ich schliesslich durch das eiserne Tor in den Schlossgarten. Müde blickte ich in die Pinienkronen, die sich im Sonnenglanz schwarz und dunkelrot färbten. Ein warmer Wind wehte vom Dorf herüber, sonst war es still. Keine Grille zirpte, kein Mensch schien hier oben zu wohnen.

Da ich die Ruhe suchte, beschloss ich, die Nacht hier zu bleiben. Ich ass mein Abendbrot und pflückte einige Brombeeren im Unterholz des Schlossparks. Ich wandelte lange durch den Garten, der im Abendlicht golden und braun flirrte, und breitete schliesslich meine Decke neben einer Steinmauer aus, die ein Beet mit roten Mohnblüten umfriedete. Die Blumen dufteten nicht, doch ihre Farbe erglühte im Abendrot, als wären es grosse Bluttropfen auf schwarzem Grund. Die Farbgewalt der Blüten zog mich in ihren Bann, und erst als die Sonne hinter den schwarzen Pinien unterging, legte ich mich auf meine Decke und schlief ein.

Mitten in der Nacht schreckte ich auf. Hatte ich im Traum eine Stimme gehört? Der volle Mond warf einen weissen Schein auf die Steinmauer des Schlossgartens und auf die Mohnblüten, deren rote Fiederblätter sich in die Kapsel zurückgezogen hatten. Ich erhob mich von meinem Nachtlager und trat in den Mohngarten. Die Mohnköpfe leuchteten weiss im Mondlicht, als wären es die Totenschädel kleiner Wesen, als sagten sie „nein, nein, nein“.

Und wie sie sich im Rhythmus des Nachtwinds von Osten nach Westen und von Westen nach Osten bewegten, gewahrte ich einen weissen, kahlen Kopf, der die anderen überragte. Ich trat an ihn heran, strich ihm über die glatte Haut. Dann fuhr ich mit der Hand an seinem Stängel hinunter, um ihn zu brechen.

„Brich mich nicht, meine Zeit ist noch nicht gekommen“, sprach eine Stimme.

Ich schrak zurück. Konnte es sein, dass eine Mohnblüte, die sich zur Nachtruhe zurückgezogen hatte, zu mir sprach?

Der Wind wehte leise, die Schlossmauer stand reglos. Es musste die Stimme des Windes gewesen sein. Ich umfasste erneut den Stängel und brach ihn. Und wie ich die nachtgeschlossene Mohnblüte in meiner Hand hielt, gewahrte ich, wie sich mein Gewand weiss wie ein Leichentuch färbte.

„Du hast mich gebrochen“, sagte die Stimme. „Ich werde bis zum nächsten Abendrot sterben, nun werde ich dir deine Zukunft vorhersagen.“

Ich erschrak. „Ist meine Zukunft gut oder schlecht?“

„Der nächste Sommer wird für dich kommen. Du wirst erblühen, wie ich. Du wirst deine Blüte öffnen und bluten für die Welt. Und des Nachts wirst du dich wieder in dich zurückziehen und ruhen.“

Ich schwieg.

„Doch ehe dein Sommer zur Neige geht, mein Freund, wird eine weisse Hand kommen und dein Genick brechen.“

„Verschone mich mit solchen Geschichten“, rief ich und warf die Mohnblüte zurück ins Beet.

„Ich kann keinen verschonen, du hast mich getötet, und dich erwartet das gleiche Schicksal wie mich. Der Mensch stirbt gleich wie die Mohnblüte auf dem Feld. Nun weisst du es.“

„Ich will nicht sterben wie du. Gibt es nichts, was ich tun kann, um die Sache ungeschehen zu machen?“, rief ich.

„Es gibt ein Geheimnis, wie du deine Tat ungeschehen machen kannst“, wisperte die Stimme mit dem Nachtwind. Ich lauschte aufmerksam, damit mir kein Wort entgehe.

„Setze meinen Kopf wieder auf den gebrochenen Stängel und mach die blutende Stelle wieder heil“, wisperte die Stimme und verstummte.